Wenn der Torwart zum Notfall wird
Sport ist nach Operation nebensächlich
Mehr als ein Jahr nach seinem Bandscheibenvorfall muss Habenhausens René Steffens doch operiert werden.
emen. Ein Handball-Torwart muss hart sein im Nehmen. Sich aus nächster Nähe den Ball um die Ohren, manchmal auch auf die Nase werfen zu lassen, erfordert schon einen ganz speziellen Ehrgeiz. René Steffens ist bestimmt nicht wild auf weitere Kopftreffer, aber er wäre froh, wenn er sich wieder ins Tor stellen könnte. Denn den Schlussmann des Drittligisten ATSV Habenhausen hat es – mal wieder – sehr schwer getroffen: Nach einem Bandscheibenvorfall im Dezember 2019, einer monatelangen Leidensgeschichte mit einigen Fort- und vielen Rückschritten sowie letztlich einer Operation Ende Januar dieses Jahres ist derzeit völlig ungewiss, wann der 28-Jährige aufs Spielfeld zurückkehren wird.
Die Wahrheit ist, dass im März 2021 nicht einmal sicher ist, ob René Steffens überhaupt in den Leistungssport zurückkehren wird. „Mein nächstes Ziel ist die Rückkehr an meinen Arbeitsplatz im April“, sagt er. Der gelernte Anlagenmechaniker im Industriebereich hat vor einigen Jahren seine Meisterprüfung abgelegt und ist als Ausbilder auf der Bremerhavener Lloyd-Werft beschäftigt. „Zum Glück muss ich dort nicht körperlich schwer arbeiten“, sagt Steffens. „Erst einmal möchte ich wieder einen normalen Alltag leben.“ Davon ist er momentan weit entfernt. Auch sechs Wochen nach der OP muss er sich immer noch sehr schonen. Er soll viel liegen, darf sich zweimal am Tag für jeweils 15 Minuten die Beine vertreten und seit Kurzem zumindest wieder ein bisschen trainieren.
Das Training, man kann es nicht anders sagen, ist für einen Leistungssportler kein wirkliches Training. Steffens hat von seinem Physiotherapeuten ein paar Übungen bekommen, die er jetzt auch zu Hause machen kann. Kleine Kräftigungsübungen sind nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Es reicht auf jeden Fall, um zu erkennen, dass „ich ganz schön steif geworden bin“. Nach der OP an der Schwachstelle zwischen viertem und fünftem Lendenwirbel darf Steffens im Liegen nun leichte Beinarbeit und Sit-Ups machen, bei denen er mit seinem Oberkörper aber kaum hochkommen soll. Bloß nicht zu früh zu viel. Doch dem ATSV-Schlussmann reicht das derzeitige Pensum völlig. „Es ist genug, um kaputt zu sein“, sagt er, „ich habe Muskelkater wie verrückt“.
Linkes Bein wie ein Fremdkörper
Diese Form der Schmerzen sind nichts gegen die Beschwerden, die René Steffens Mitte Januar ganz plötzlich zu einem Notfall werden ließen. „Am Sonnabend fühlte sich alles auf einmal ganz anders an“, erinnert er sich noch genau an den 23. Januar. Ein stechender Schmerz im linken Bein zwang ihn dazu, aufs geplante Autofahren zu verzichten. Am Sonntag wurde es schlimmer, am Montag dann dramatisch. „Mein linkes Bein war wie ein Fremdkörper, die Schmerzen stiegen hoch bis in die Arme.“ Seine Lebensgefährtin fuhr ihn zum ohnehin anberaumten Termin beim Neurochirurgen in Bremen. Eine Spritze half zunächst, doch am folgenden Dienstag war das Bein komplett taub. Die Untersuchung im Krankenhaus Debstedt bestätigte die Lähmungserscheinungen, die Steffens zum Notfall und eine Operation alternativlos machten. Am 29. Januar lag der ATSV-Torwart in Debstedt unterm Messer.
Damit trat das ein, was Steffens nach drei Knieoperationen in den vergangenen Jahren unbedingt hatte vermeiden wollen und was nach Auffassung von diversen Ärzten auch nicht nötig schien: die Bandscheiben-OP. Angefangen hatte die Leidenszeit des Handballers am 1. Dezember 2019. Im Oberliga-Spiel beim TV Bissendorf/Holte erlitt er erstmals einen Bandscheibenvorfall. „Ich hatte Stiche im Rücken“, sagt er. „Ich wurde in der Halbzeitpause behandelt und habe dann weitergespielt.“ Zu diesem Zeitpunkt war von einem Bandscheibenvorfall noch keine Rede. Die Rückfahrt im Bus nach Habenhausen ist Steffens auch deshalb noch nachhaltig in Erinnerung, weil er sie buchstäblich durchstehen musste. An Sitzen war wegen der Schmerzen nicht zu denken.
Wenig später erhielt Steffens nach einem MRT die Diagnose Bandscheibenvorfall. Die Ärzte waren aber überzeugt, dass der kräftige, 1,92 Meter große Sportler ohne OP auskommen werde. Der Torwart blieb also im Training, so weit es ging, spielte allerdings nicht mehr. Dann, im März 2020, kam Corona – und nun spielten auch die Gesunden nicht mehr. Es folgten im ersten Lockdown der Aufstieg seines Teams in die 3. Liga und dann die monatelange Unsicherheit, wie es weiter geht. Bei ihm persönlich, weil er seit Dezember 2019 nie mehr schmerzfrei war – und mit dem Sport überhaupt.
Kurz vor dem Saisonstart im Oktober 2020 wurde Steffens klar, dass der Aufsteiger erst mal ohne ihn planen musste. „Am Schreibtisch hatte ich plötzlich Taubheitsgefühle im Unterleib“, sagt Steffens. Am gleichen Tag rief er Trainer Matthias Ruckh an: „Es geht nicht mehr.“ Steffens hatte die Nase voll. Nach zwei Kreuzbandrissen wollte er sich auf keinen Fall noch einmal operieren lassen. „Ich verdiene mein Geld doch nicht mit Handball“, sagt er, „ich habe ja auch noch andere Projekte im Leben als den Sport“. Zum Beispiel im niedersächsischen Spaden bei Bremerhaven sein im Vorjahr gekauftes Haus, in dem er handwerklich so viel selbst macht, wie es geht.
René Steffens hat mit dem Handball trotz seiner langen Leidenszeit keineswegs abgeschlossen. „Er ist nicht alles“, sagt er, „aber ich habe mir ganz fest vorgenommen, dass ich über das Ende meiner Karriere entscheide und nicht mein Körper“. Solange es mit dem Rücken noch ging, war Steffens zumindest als Zuschauer bei den Spielen des ATSV dabei. Seit Ende Oktober ruht der Liga-Betrieb, seitdem beschränkt sich der Kontakt zwischen ihm und den Kollegen auf Whatsapp, Sprachnachrichten und Telefonate.
Die Mannschaft fehle ihm, sagt er, doch über eine Rückkehr ins Tor möchte er lieber noch nicht sprechen. Erst mal wieder arbeiten, erst mal wieder fit sein für den Alltag. „Zur Entscheidung, ob ich ins Team zurück komme, gehören viele Parteien“, sagt er. Mindestens er selbst und die sportliche Leitung des ATSV. Und natürlich vor allem seine körperliche Verfassung.
Bericht aus dem Weser Kurier
Veröffentlicht im Weser Kurier am 14.März.2021. Geschrieben von Jörg Niemeyer.